
Lilos großer Sprung
Am Anfang wissen wir nur eines: Lilo, ein rotes Eichhörnchen-Baby, wurde offenbar von ihrer Mutter fallen gelassen. Vielleicht hat die Mutter sich erschreckt – ein lautes Geräusch, ein Raubvogel, ein Hund – und musste an die anderen Babys denken. Sie kam jedenfalls nicht zurück.
Lilo wurde durch eine Finderin mit großem Herz gefunden – und Lilo war viel kleiner als eine Hand, leise piepsend. Sie wärmte sie an ihrem Körper und rief bei der Eichhörnchenrettung Neuss an. Auf Anraten der Helfer:innen wartete sie in Sichtweite des vermuteten Nests, ob die Mutter wiederkommt. Doch niemand kam. Also brachte die Finderin Lilo vorsichtig zur Station.
Drinnen, in einem stillen, warmen Raum der Station, roch es nach Decken, Holz und ein bisschen nach Nüssen. Hier werden die Eichhörnchen drinnen gepäppelt – liebevoll, rund um die Uhr. Sanfte Stimmen begrüßten Lilo, behutsame Hände prüften sie, und aus einer kleinen Pipette bekam sie die erste Milch ihres neuen Lebens. Lilo schmatzte leise, blinzelte – und hielt sich mit einem winzigen Pfötchen an einem Finger fest, als wäre er ein Ast. Wenn eine Hand ihren Kopf streifte, schmiegte sie sich tiefer hinein. Lilo ist ein ganz liebes Hörnchen, das gern kuschelt, und sie macht alles ganz toll.
Mit jedem Tag wurde sie größer. Ihr Fell bekam den glänzenden Rotton der Abendsonne, und ihr Schwanz plusterte sich zu einer prächtigen Bürste. Lilo lernte zu klettern: erst am weichen Kletterseil, dann an glatten Stäben und schließlich an echten Ästen, die im Trainingsgehege steckten. Sie sprang von Ast zu Ast, zunächst zögerlich, dann mutig, und landete fast immer so gut, als hätte der Wind sie getragen.
Eines Nachmittags kam Gesellschaft. Ein winziger Eichkater, noch ein bisschen zittrig auf den Füßchen, wurde in ein Nest neben Lilos gelegt. „Er heißt Stitch“, erklärten die Helfer. Stitch roch nach Wald und einem Hauch Abschied – und nach Hoffnung. Lilo rückte näher, schob ihm ein Stückchen weiches Nistmaterial hin und legte die Schwanzspitze auf seinen Rücken, als wolle sie sagen: „Ich bin da.“ Von da an waren es zwei. Beim Füttern spitzten sie im Duett ihre Näschen, beim Dösen lagen sie Rücken an Rücken, und wenn die Welt mal groß wurde, war sie zu zweit halb so wild.
Die Tage wurden länger, das Gezweig grüner, und Lilo und Stitch zogen in die Außenvoliere. Dort roch es nach Regen und Rinde, und der Wind erzählte Geschichten von den hohen Bäumen draußen. Sie übten das Knacken von Haselnüssen – erst war es ein Rätseln, dann knack, und die feinen Pfötchen hielten die Schale wie kleine Werkzeugmeister. Sie versteckten Vorräte, fanden sie wieder, und manchmal fanden sie sogar die Verstecke des anderen. Dann gab es ein Flitzespiel rund um den Stamm, ein Kichern im Eichhörnchensinne – so leise, dass nur, wer ganz genau hinhörte, es wirklich hörte.
Eines Abends, als die Sonne die Voliere in Honiglicht tauchte, hörte Lilo die Helfer reden: „Bald sind sie bereit für die Auswilderung. Grafenberger Tierpark.“ Lilo verstand nicht jedes Wort, aber sie verstand das Wichtigste: Draußen wartet ein großer Wald mit echten, endlosen Wegen nach oben. Ihr Herz klopfte wieder, diesmal vor Vorfreude. Sie ist jetzt richtig groß geworden. Und obwohl sie das Kuscheln immer noch liebt, weiß sie: Manchmal kuschelt man am besten mit dem Wind, den Blättern und der Freiheit.
Noch liegt die Auswilderung in der Zukunft. Lilo und Stitch trainieren weiter: springen, balancieren, Nüsse knacken, Futter verstecken und wiederfinden. Lilo freut sich schon sehr auf den Tag, an dem sich die große Tür öffnet und die Bäume im Grafenberger Tierpark sie rufen. Bis dahin schläft sie abends dicht an Stitch gekuschelt ein und träumt von ihrem großen Sprung – dem, der bald kommt.